Episode
Anna Kuen // Kunst und Kreativität
Von der Klarheit der Linien
Anna Kuen ist bildende Künstlerin, Model und DJ. Ein Leben ohne Notizbücher ist für sie undenkbar. Stift und Papier braucht sie, um ihre Ideen zu sortieren – und manche Gedanken loszuwerden
Anna Kuen, Sie sind Künstlerin und führen auffällig viele Notizbücher. Was halten Sie darin fest?
Ich habe ein Notizbuch und ein Skizzenbuch, die beide immer aufgeschlagen auf meinem Arbeitstisch im Atelier liegen. Bevor ich zu malen beginne, s chreibe ich zunächst etwas ins Notizbuch – ein Ritual, um den Kopf freizubekommen. Es kann ein einzelnes Wort sein, eine Beschreibung meines Gemütszustandes, etwas, das mich gerade beschäftigt, oder etwas, das ich nicht vergessen möchte.
Im Skizzenbuch zeichne ich als Vorbereitung meiner Arbeit an der Leinwand, und ich notiere mir Ideen zum Titel des Bildes. Manchmal schreibe ich Passagen auf, die ich anderswo gelesen habe und die für mich mit dem Werk in Verbindung stehen. Wenn ich bei einer Arbeit feststecke, blättere ich in meinen Werkbüchern zurück und versuche so, einen verlorenen Faden wieder aufzunehmen.
Wie ordnen Sie Ihre Gedanken? Listen oder Mindmaps?
Am ehesten in Mindmaps. Ich beobachte, wie meine Aufzeichnungen einen Rhythmus entwickeln. Ich baue zum Beispiel eine Seite immer ähnlich auf, mit einer Art Gerüst, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben. Da meine Notizbücher oft nicht liniert sind, kann es auch passieren, dass eine Notiz nach oben rutscht und mit Pfeilen versehen wird. Auch das ist ein Prozess, der sich vom Kopf zur Hand mitunter verselbstständigt. Es ist meine Art, meine Gedanken zu ordnen.
Denken Sie als Malerin eigentlich eher in Worten oder in Bildern?
In Bildern – und in Farben. Obwohl ich meine Skizzen und Notizen immer mit schwarzem Fineliner zu Papier bringe, sind sie für mich farbig.
Haben Sie Rituale für das Schreiben?
Neben dem beschriebenen Ritual zur Gedankenhygiene im Atelier nutze ich zu Hause Notizbücher, in denen ich aufschreibe, was ich erledigen möchte. Ich brauche solche Notizen immer handschriftlich. Sobald ich meine Gedanken zu Papier gebracht habe, habe ich sie aus dem Kopf und fühle mich weniger gestresst. Die Kreativität gewinnt Raum. Das geht weit über To-do-Listen hinaus und unterscheidet sich auch von klassischem Tagebuchschreiben: Wenn ich mir über eine Sache im Unklaren bin, versuche ich, sie in Worte zu fassen. Manchmal setze ich mich hin und reflektiere meinen Status quo. Was gefällt mir gerade? Was nicht? Was würde ich gerne ändern? Das ist ein spannender Prozess. Das Visualisieren der Gedanken, dadurch, dass ich sie handschriftlich zu Papier bringe, schafft so viel Klarheit. Manchmal erkenne ich dabei: Ach, eigentlich ist diese Sache gar nicht so wichtig oder so groß, wie ich zunächst dachte. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich: Vielleicht ist die Sache sogar größer als vermutet.
Das Visualisieren der Gedanken, dadurch, dass ich sie handschriftlich zu Papier bringe, schafft so viel Klarheit.“
Sie haben in Wien bei Daniel Richter Malerei studiert. Rühren Ihre Schreibrituale aus Ihrem Studium?
Ich glaube, jeder schafft seine eigenen Rituale. Ich nutze die Skizzenbücher auch, um meine künstlerische Arbeit vom Rest meines Lebens abzugrenzen, damit habe ich tatsächlich schon im Studium begonnen. Zum Beispiel im Rahmen der allabendlichen Aktzeichenstunden. In einem anderen Kurs, in dem es um kreatives Zeichnen ging, haben wir Studierende an gemeinsamen Büchern gearbeitet. Solche Bücher sind also schon länger meine Weggefährten.
Arbeiten Sie auch am Laptop?
Den Laptop nutze ich so wenig wie möglich, zumindest im Rahmen meiner künstlerischen Arbeit. Notizen mache ich zwar auch auf dem Smartphone, neige aber dazu, sie zu vergessen – zu solchen Notizen besteht bei mir einfach nicht die gleiche Verbindung wie zu den handschriftlichen. Digitale Listen nutze ich nur fürs Einkaufen.
Wie wirkt sich das Schreiben und Zeichnen mit der Hand auf Ihre Kreativität aus? Sind Sie mit Stift und Papier intuitiver?
Auf jeden Fall. Ich kann mich besser fokussieren, wenn ich mit der Hand schreibe. Kreativität hat für mich mit Fokus zu tun und damit, die Außenwelt auszublenden. Nicht selten ist es unerwartet, was im künstlerischen Prozess zu Papier kommt – das gilt für Skizzen genauso wie für Worte. Titel zu einer Werkgruppe entwickle ich meist, wenn ich bereits mitten in der Arbeit stecke, und auch da vertraue ich auf intuitiv Niedergeschriebenes.
Bewahren Sie Ihre Notizen auf?
Ja, die Bücher stehen im Regal.
Verwenden Sie bestimmte Stifte?
Ja, ich nutze meist die Fineliner von Muji. Zum Schuljahresbeginn kaufe ich aber auch manchmal welche bei Lidl (lacht). Ich habe einen ziemlichen Verschleiß, weil ich sie ständig irgendwo verlege.
Sobald ich meine Gedanken zu Papier gebracht habe, habe ich sie aus dem Kopf und fühle mich weniger gestresst. Die Kreativität gewinnt mehr Raum.“
Nehmen Sie Ihre Notizbücher mit auf Reisen?
Ja, ich fühle mich total nackt, wenn ich ohne Notizbuch reise. Überraschenderweise schreibe ich aber viel mehr hinein, wenn ich zu Hause bin.
Sind Sie sparsam oder verschwenderisch?
Verschwenderisch. Ich fange immer gerne neue Seiten an.
Gibt es Notizen, die Ihnen am Herzen liegen, die Sie wie einen Schatz hüten?
Das sind Alltagsnotizen, die mir mein Mann Johannes geschrieben und in den Koffer gelegt hat. Oder die er mir hinterlassen hat, wenn er weggefahren ist. Und eine handschriftliche Rechnung unseres Lieblingsitalieners, der leider zugemacht hat. Sie hängt bei uns am Kühlschrank, als Erinnerung an die schönen Stunden dort.
Anna Kuen
Die deutsche Künstlerin Anna Kuen hat Malerei an der Wiener Akademie der bildenden Künste bei Daniel Richter studiert. In ihren abstrakten Gemälden, großformatigen Serien mit kontrastreichen Farbkompositionen, treffen kantige und organische Strukturen aufeinander, viele von ihnen beziehen sich auf die Natur ihrer Heimat. Kuen ist im bayerischen Burghausen im Landkreis Altötting aufgewachsen, das nahe Alpenpanorama und die Seen haben sie geprägt. Neben ihrer Arbeit als Künstlerin reist Kuen als Model und DJ durch die Welt – momentan jedoch ist sie meist in ihrer Wahlheimat Berlin, wo sie seit 2019 lebt.
Autorin Ilona Marx
Ilona Marx ist freie Autorin. Sie ist die Mitbegründerin des Modefachmagazins J’N’C, das sie zwei Jahrzehnte lang als Chefredakteurin betreute. Seit drei Jahren ist sie als Contributing Editor im Team des Konfekt Magazins. Ihre Schwerpunktthemen sind Interior Design, Mode, Gastronomie, Kunst und Reisen. Zu ihren weiteren Kunden gehören Wallpaper, The Weekender, Vogue, Neue Zürcher Zeitung, Salon und Architektur & Wohnen. Ilona Marx lebt mit ihrem Mann in Düsseldorf.